Thematik: Zeit

Als grundlegende Dimension betrifft Zeit auch sämtliche Gebiete der Germanistik. Sprache und Literatur finden nicht nur in der Zeit statt und werden dadurch Teil von Sprach- und Literaturgeschichte, in ihnen wird Zeit auch sprachlich und textuell organisiert und repräsentiert – etwa als grammatische Kategorie, als ‚erzählte Zeit‘, als lyrische Präsenz. Damit werden Theorien von Zeit für die Sprach- und Literaturwissenschaften sowie die Didaktik des Deutschen unmittelbar relevant. Umgekehrt tragen sie auch selbst zur theoretischen Konzeptualisierung von Zeit bei. Zugleich ist Literatur als ästhetisches Medium in besonderer Weise geeignet, den ambivalenten Charakter von Zeit zwischen scheinbar objektiver Messbarkeit und subjektiver Wahrnehmung darzustellen und zu diskutieren. Darüber hinaus steht bildungspolitisch die Frage im Raum, wie viel Zeit für welche Prozesse im Leben der Lernenden zur Verfügung stehen soll und wie Curricula mit zeitlichen Ressourcen in Einklang gebracht werden können. Zeit ist eines der zentralen Themen der Germanistik – auch als Teil einer Gesellschaft, die Zeit als knappes Gut bespricht und in der Zeitvorgaben den wissenschaftspolitischen Diskurs mehr und mehr bestimmen.

Die folgenden vier Themenbereiche skizzieren unterschiedliche Perspektiven auf das Thema ‚Zeit‘ – im Bewusstsein, dass sie Überschneidungen aufweisen und manche Forschungsgegenstände durchaus unterschiedlich verortet werden könnten. Die Einteilung in Bereiche markiert deshalb Fragestellungen, die die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Phänomenen in den einzelnen Panels leiten sollen. Willkommen sind auch komparatistische, gattungs- und medienvergleichende oder interdisziplinäre Zugänge sowie Panel-/Workshopvorschläge, die das Thema ‚Zeit‘ aus Blickwinkeln betrachten, die in diesem Aufruf nicht bereits antizipiert sind.


Themenbereich 1: Theorien und Konzepte von Zeit

Die Frage, was Zeit sei, wurde und wird in historischen Epochen, verschiedenen Kulturräumen und aus dem Blickwinkel einzelner Disziplinen und Weltanschauungen je unterschiedlich beantwortet. Setzen Naturwissenschaften, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Theologie, Soziologie oder Psychologie bereits je vielfältige Zeitkonzepte an, so interferieren diese wiederum mit ästhetischen Formen von Zeitdarstellung und -reflexion. Die aktuell intensiv untersuchten ‚Ästhetischen Eigenzeiten‘ sind aber auch ihrerseits für die begrenzte Gültigkeit des Konzepts der Alltagszeit und für komplexe Prozesse im Zusammenhang mit der Generierung von Zeitbewusstsein charakteristisch. Die Panels des ersten Themenbereiches können artikulierte und explizit reflektierte Theorien und Konzepte von Zeit in den Blick nehmen (lineare, zyklische, chronologische, achronologische, polychrone, isochrone, teleologische etc.), die Modellhaftigkeit von Begriffen wie ‚Ewigkeit‘, ‚Vergänglichkeit‘, ‚Simultaneität‘, ‚Reversibilität‘, ‚Kontinuität‘ untersuchen oder sich mit literatur-, medien- oder sprachwissenschaftlichen Anknüpfungen an Theorien und Diskurse auseinandersetzen (in Anschluss an z.B. Augustinus, Heidegger, Genette, Ricœur, Deleuze). Auch in pädagogisch-didaktischen Kontexten stehen oftmals Zeitkonzepte im Zentrum, etwa Zeitadaptivität, Zeitpassung und Zeiteffizienz: Individualisierung und Kompetenzorientierung erfordern prinzipiell eine Anpassung des Lernprozesses an das individuelle Arbeitstempo der Lernenden. Entsprechende Postulate haben jedoch sowohl organisatorisch (u.a. Stundenbudget für den Deutschunterricht in den Schulen, Debatten um G 8/G 9) als auch pragmatisch Konsequenzen: Lernen in zeitlich fixierten Stufenmodellen (mit 45-MinutenRhythmen) konkurriert mit reformpädagogisch orientierten Konzepten wie freier Zeit oder individueller Lernzeit. Damit verknüpft werden können einerseits Fragen nach der Zeitgemäßheit von didaktischen Auswahlkategorien (z.B. Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht) und didaktischen Konzepten (z.B. funktionaler, integrativer oder situativer Grammatikunterricht), andererseits Fragen nach dem kognitiven Vermögen der Lernenden (u.a. zu empirisch messbaren Dimensionen wie Leseflüssigkeit und Leseverstehen, ferner zu Konzepten wie Tempuserwerb im Kontext des Spracherwerbs).


Themenbereich 2: Repräsentationen von Zeit

Der zweite Themenbereich fragt nach Repräsentationen von Zeit und damit auch nach der Relationalität, in der sprachlich geäußerte Zeit immer steht. Gemeint sind dabei jedoch weder Konzepte oder Theorien von Zeit (Themenbereich 1) noch explizite Thematisierungen von Zeit in literarischen und anderen Kunstwerken (Themenbereich 4). Die grundlegende Fragestellung dieses Bereichs ist vielmehr, auf welche Weise Zeit und Zeitlichkeit in Kommunikationssituationen, in Literatur, Film und anderen Künsten medien- und gattungsspezifisch, aber auch in ihrer genuinen Sprachlichkeit zur Erscheinung kommen, inszeniert und konstruiert werden. Hierhin fallen erzähl- und tempustheoretische Fragestellungen, die sich z.B. mit dem Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit, mit Phänomenen wie Pro- und Analepse, ordo naturalis/artificialis u.ä. auseinandersetzen, in der Epik bzw. im Roman und in der (Auto-) Biographie, im Film, aber auch in anderen einschlägigen (ggf. auch interaktiven) Medien und Gattungen. Bei Lyrik und Lieddichtung stellen sich Fragen nach einer gattungsspezifisch ‚lyrischen‘ Zeitlichkeit (z.B. im Verhältnis von struktureller Rekursivität und inhaltlichem Verlauf), nach der Simulation von Präsenz (auch bezogen auf die Aufführung, etwa bei mittelalterlicher Lyrik und aktuellem Poetry Slam), nach Möglichkeiten der Kodierung von Zeit in Metrik und Rhythmus. Im Drama bzw. im Theater finden hier etwa Fragen nach dramatischer Zeitlichkeit einen Platz, aber auch nach der Rolle von Zeit und Zeitlichkeit in Ereignissen und Aufführung, d.h. Fragen der Performanz. Aus sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Perspektive sind in diesem Themenbereich Diskussionen über Zeit und Zeitlichkeit als grammatische und/oder lexikalische Kategorien denkbar, sei es etwa in sprachkontrastiver, spracherwerbstheoretischer oder explizit sprachkultureller Betrachtung, aber auch in ihrer Modellierung und Konzeptualisierung in Lehr- und Lernmedien. Fruchtbar könnten auch Fragen nach Zeit und Zeitlichkeit in der sprachlichen Performanz sein, etwa in der Prosodie bzw. sequenziellen Phrasierung, aber auch beim Sprechen, Gebärden, Lesen und Schreiben in Abhängigkeit von ihrer Materialität und Medialität.


Themenbereich 3: Zeit als historische Kategorie

Der dritte Themenbereich behandelt Sprach- und Literaturgeschichte, indem er sprachliche und literarische Phänomene in ihrer zeitlichen Entwicklung sowie deren Vermittlung ins Zentrum stellt. Es geht somit um Erscheinungen evolutiver Variations- und Selektionsprozesse, des Wandels, der Innovation. Die Betrachtung von Phänomenen in der Zeit ist auf die Dimension ‚vorher/nachher‘ gerichtet und damit auf Zeiträume. Gegenstände wie Weltchroniken, historische Romane und Filme oder Science-Fiction und Zeitreisen könnten diesem Themenschwerpunkt zugerechnet werden, sofern sie distinkte, als abgeschlossen dargestellte Zeiträume thematisieren: Mit welchen Mitteln evozieren die verschiedenen Medien ein Bewusstsein von der Alterität vergangener und zukünftiger Zeiträume? Und welche Möglichkeiten bieten die Methoden der Digital Humanities, ‚Wandel‘ zu visualisieren? Bezogen auf die Literatur und andere Medien lassen sich im Rahmen dieses Themenschwerpunkts Theorien der Innovation, des Wandels und der Veränderung beschreiben und analysieren – zum einen mit Blick auf die zeitgenössische Wahrnehmung von Veränderung, zum anderen mit Blick auf deren nachträgliche Bewertungen. Auch Fragen nach Epocheneinteilungen sowie ihren heuristischen Chancen wie Problemen können hier aufgegriffen werden.

Weitere Ansätze bieten sich in diesem Schwerpunkt außerdem in Hinblick auf Sprachwandeltheorien an. Sprachgeschichte lässt sich in der Perspektive des Schwerpunkts als Textsorten- und/oder Diskursgeschichte begreifen. Denn Sprechen ereignet sich in Form sprachlichen Handelns immer schon in spezifischen Kontexten, die wiederum einen Diskursbezug aufweisen. Sprachwandel (sowohl auf formaler als auch auf semantischer und pragmatischer Ebene) muss demzufolge als diskursiv begründeter bzw. diskursiv hervorgebrachter Wandel betrachtet werden. Zudem kann gezeigt werden, wie dieser sich in unterschiedlichen Textsorten manifestiert. In Hinblick auf den Deutschunterricht lassen sich Aspekte des Sprachwandels für den Kompetenzbereich ‚Sprache und Sprachgebrauch reflektieren‘ aufgreifen. Bezogen auf den Kompetenzbereich ‚Sich mit Texten und Medien auseinandersetzen‘ könnte das für den schulischen Literaturunterricht wesentliche Spannungsverhältnis von notwendigem historischem Orientierungswissen und der kritischen Problematisierung literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe reflektiert werden.


Themenbereich 4: Zeit als Thema und Motiv

„Kann man die Zeit erzählen“ – so fragt der Erzähler in Thomas Manns Zauberberg –, „diese selbst, an und für sich?“ Feststehen dürfte, dass im Lauf der Literaturgeschichte immer wieder versucht wurde, von der Zeit zu erzählen, und zwar in Werken, die sowohl für die wissenschaftliche Forschung als auch für den Deutschunterricht relevant sind – sei es in Genres wie Chroniken, dem Zeitroman, dem Zeitstück, der Science-Fiction oder dem historischen Roman, in Texten über die Schöpfung der Welt, in mittelalterlichen Dichtungen vom Weltende oder der vanitas-Dichtung des Barock. Auch Feuilleton und Essayistik lenken die Aufmerksamkeit immer wieder explizit auf das Thema Zeit, u.a. wenn sie in kritischer Perspektive die Veränderungen der Zeitwahrnehmung unter den Bedingungen digitaler Beschleunigung diskutieren. Bei der Thematisierung von Zeit handelt es sich somit um ein sowohl transhistorisches als auch transgenerisches und transmediales Phänomen. Experimentell und spielerisch wird Zeit zum Motiv und Gegenstand in Romanen, Filmen sowie dramatischen und lyrischen Texten, welche die Zeit personifizieren oder Zeit implizierende Objekte wie z.B. Kalender oder Zeitmessgeräte auf symbolischer, allegorischer oder metaphorischer Ebene einsetzen. Des Weiteren ist in der Literatur das Motiv der Zeitlichkeit menschlichen Lebens eng verbunden mit Gedächtnis und Erinnerung – kollektiver wie individueller Art – und spielt in dieser Verbindung etwa in Biographien, Tagebüchern und Blogs, aber auch bereits in frühneuzeitlichen Leichenpredigten eine Rolle. Darüber hinaus können Thematisierungen von Zeit jeweils spezifische Funktionen bzw. Eigenschaften von Literatur markieren: Die Verortung einer Handlung in unbestimmter Zeit (‚Es war einmal‘) kann etwa als ein Fiktionalitätssignal fungieren. Selbstreferenziell wird das Thema ‚Zeit‘ dagegen, wenn Paratexte die Kurzweil oder Muße programmatisch zu einem Ziel der ästhetischen Erfahrung erklären, so dass Literatur und Kunst zu einer Kulturtechnik des Zeitmanagements zu werden scheinen. Literatur und mit ihr verwandte Künste verweisen so in verschiedenster Weise auf die gesellschaftliche Relevanz von Zeit.